Europas Meister, so lautete das Motto des Frühstücksgottesdienstes am vergangenen Sonntag, der angesichts des nun feststehenden BREXIT nochmals an Aktualität gewonnen hat. Denn überraschender Weise ging es in unserem Gottesdienst nur am Rande um die aktuell laufende EM. So eröffnete ein europäischer Meister die Runde, der nicht auf dem Spielplan in Frankreich steht: Pablo Picasso, mit seinem im März 1932 gemalten „Mädchen vor einem Spiegel“.
(Text als pdf im Predigtarchiv)
Nun ist Marie-Thérèse Walter nicht Europa und Picasso nicht der im Stier verkörperte Zeus, der dieses syro-phönizische Mädchen der Legende zu Folge nach Kreta entführte, auch wenn er sich selbst möglicherweise gerne stierhaft gesehen hat. Dennoch könnte das Spiegelbild eines verführt-verführerischen Mädchens in Machohand und Männerblick am vergangenen Sonntag für ein Europa stehen, das sich in seiner Selbstbespiegelung zugleich den Phantasien, Markierungen und Urteilen egozentrischer Männer ausgesetzt sieht. So zeigte der Gottesdienst die Kontraste, Beziehungen und Widersprüche europäischer Meister und ihrer Geschichte.
So folgte als nächster europäischer Meister Rembrandt, dessen „Nachtwache“ von 1642 sich im Europa des 21. Jahrhunderts plötzlich als finstere Erscheinung so genannter Bürgerwehren wiederfindet, dann Leonardo da Vinci, der europäische Meister schlechthin, sei es nun der Ingenieurskunst prä-industrieller Panzerfahrzeuge, des ideal-geometrisierten Mann-Menschen oder als Maler des „letzten Abendmahls“, das uns als Ereignis in den Gottesdiensten dieses Jahres schon mehrfach beschäftigt hat.
Caspar David Friedrich bildete den Abschluss der kleinen Auswahl europäischer Meister, wobei „die gescheiterte Hoffnung“ (so wurde das Bild „Das Eismeer“ von 1823/24 bis 1965 bezeichnet) mit der „Frau vor der untergehenden Sonne“ (von 1812) einen vielsagenden Kontrast bildete:
Das den eiskalten Verwerfungen zum Opfer gefallene Schiff aus der Zeit des Vormärz, Sinnbild einer von Liberalismus und Nationalismus geprägten Zeit des Deutschen Bundes kontrastiert mit dem Blick der in den Abend blickenden dunklen Dame. Womit sich die sprachlichen Ursprünge Europas zwischen dem phönizischen „erob“ für dunkel bzw. Abend und das griechische „eurys“ für „weit“ und „ops“ (nicht ups, sondern die Wurzel der „Optik“) für Sicht – also „weite Sicht“ verbinden. Eine weite Sicht ins Dunkel, nachtwachende Bürgerwehren als Resultat gescheiterter Hoffnungen, Europa im Spiegel zwischen Kunst und Technik und darin ausgerechnet das Abendmahl einer Truppe jüdischer Männer, kurz bevor deren Meister – ein galliläischer Zimmermann – mit seiner Botschaft einer Grenzen überschreitenden Gerechtigkeit politischer und religiöser Selbstbehauptung zum Opfer fällt.
War es also doch vielleicht der Blick in den Sonnenaufgang – und damit der sehnsüchtige Blick zurück in den Orient, das Morgenland, zumal ein Kirchturm möglicherweise eine religiöse Dimension des Bildes der Frau im Sonnenauf-oder-untergang andeutet? Sind es also nicht in erster Linie die europäischen Meister und ihre europäischen Werke, sondern die Gestalten in den Bildern, die europäische Bedeutung haben? Wird aus der Frau mit den rubinroten Ohrringen, sobald sie sich umdreht, das „Mädchen mit dem Perlenohrring“ (Jan Vermeer 1665) oder werden es eher Perlen mit einer Frau darin – Elisabeth die Erste, womit die glorreichen Zeiten britischer Königinnen von Elisabeth der Ersten über Queen Victoria bis zu Elisabeth der Zweiten die Sehnsüchte britischer Brexit-Souveränität versprechen? Begann doch mit Elisabeth der Ersten die Eroberung der britischen Welt, während das Mädchen mit dem Perlenohrring eine Art Turban trägt, erneutes Zeichen einer orientalischen Spur in der europäischen Kultur, die zumindest bei LEGO mit dem Set 60008 „Museumsraub“ erneut einem Raub zum Opfer fällt.
Sind Europas Meister also doch die Männer, Aristoteles, der Lehrer Alexanders des Großen von Mazedonien, als Denker einer europäischen Wissenschaftskultur oder Friedrich Nietzsche (dargestellt auf einem Bild von Edvard Munch), Denker einer radikalen Kritik religiöser und metaphysischer Denkgebäude? Doch wem gilt die Demontage einer christlichen Tradition Europas: einem der Schöpfung verbundenen Franz von Assisi oder einem Martin Luther, dessen revolutionär-reformatorischem Anspruch eine europäische Gewaltgeschichte folgte, zu deren Erbin wiederum zum Beispiel Elisabeth die Erste werden konnte?
Und welche christliche Tradition vertreten die selbsternannten Kulturchristen der AfD, in deren Dunstkreis Gewalt gegen Pfarrer zum guten Ton gehört, sollten diese allzu christlich handeln: Die Erfindung von Weihnachten als Meisterstück europäischer Religionsgeschichte?
Mit dem europäische Meisterstück der Aufklärung als dem „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, so Immanuel Kant, sind nicht nur die französische Revolution und der „Independence Day“ der britischen Kolonien verbunden – einem Stichwort, dass im Munde des englischen Nationaldemagogen Farage zur Realsatire zwischen amerikanischer Unabhängigkeit von Großbritannien und dem Hollywoodfilm eines deutschen Regisseurs wird, sondern auch napoleonische Eroberungsträume und die Neuordnung Europas in einer Nationalstaaterei, in der nicht nur Caspar David Friedrichs Hoffnung unterging, sondern die kolonialistische Globalisierung der Aufteilung und Ausbeutung der Welt als europäische Welt-Meisterschaft mehrfach zu globalen Kriegen und Kriegsschauplätzen führte, um schließlich in die Aufteilung Europas in Ost und West zu münden, nachdem Hitler und seine Helfershelfer Europa in Gewalt und Zerstörung gestürzt hatten. Ausgerechnet diese Europa der Verachtung, des Hasses und der Zerstörung wird aktuell wieder als anzustrebendes Modell hervorgeholt: Stolz, Widerstand, Notwehr etc. sind keine neuen Begriffe sondern die Neubelebung faschistischer Maskierung von Gewaltherrschaft und primitivster Männerphantasien wie sie im Mord an der britischen Abgeordneten und Mutter zweier Kinder Jo Cox oder zuletzt auf den Straßen von Marseille und den Tribünen der EM zu besichtigen und von russischen Sportfunktionären zu hören waren.
Dass eine Bewegung, die sich „Solidarität“ nannte, zur Überwindung von Zaun und Mauer in Europa beitrug – eine Meisterleistung gewaltfreien Widerstandes – ermöglichte nicht nur den „Wahnsinn“ eines wieder vereinigten Deutschlands – vielleicht war es nicht umsonst diese Vokabel, die damals so inflationär gebraucht wurde, sondern die Überwindung einer in Trennung und Erstarrung gefangenen Ordnung kalter Gewaltandrohung. Doch der Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West und innerhalb Westeuropas folgten schon in den 1990er Jahren neue Grenzen in den Köpfen, neue Grenzen zwischen Nord und Süd und Gewaltausbrüche gegenüber so genannten „Fremden“.
Zusammen mit dem für viele Identitätsverirrte als Zumutung empfundenen schlagbaumfreien Grenzübergang, der Abschaffung des währungsfetischistischen Zwangsumtauschs und einem Europa der Regionen entwickelte sich eine in der von 1988 bis 2009 bestehenden Verordnung EWG Nr. 1677/88 über die Festsetzung von Qualitätsnormen von Gurken versinnbildlichte EU-Bürokratie, der es offenbar im Jahr 2016 per Brexit, Oustria, Retireland, Beljump, Departugal oder Portugo, Quitaly etc. zu entkommen gilt. Dabei stieß die Abschaffung der Gurkenkrümmungsnorm vor allem bei Bauernverbänden, Händlern und Verbraucherschützern auf erbitterten Widerstand – und dem CSU geführten Landwirtschaftsministerium. Jedenfalls so lange, bis bei letzterem der zuständige Fachreferent versetzt wurde, da man schließlich aus Prinzip gegen die Eurokratie sei. Dem müssen auch durchaus sinnvolle Verordnungen von Qualitätsstandards schon mal geopfert werden, skeptisch beobachtet von der Syrierin Europa, deren Abbild auf den neuen Euroscheinen zu sehen ist.
Doch wo nun in den letzten Jahren vermehrt afrikanische Menschen ins Europa der nunmehr ungeregelten Gurkentruppen fliehen, wiederholen sich Bilder von Menschen auf Grenzzäunen und davor stehenden Ordnungskräften – diesmal nicht als Ausdruck einer gewonnenen Freiheit, sondern als Ausdruck einer geforderten Abschottung. Hieß es doch auf den alten Missionsplakaten, auf denen ein sehnsüchtig die Arme ausbreitender Afrikaner zu sehen war: „Komm herüber und hilf uns“ – und nicht: „Lass uns rein und hilf uns!“. wir Europäer sind schließlich die Meister der Kolonialisierung.
Doch war dieses „Komm herüber und Hilf uns!“ ursprünglich die Vision eines gewissen Paulus von Tarsus, der im kleinasiatischen Trias festsaß, weil er mit seinen Bemühungen, die Menschen in Kleinasien vom Neuen Weg zu überzeugen nicht recht weiterkam. Während in einer späteren Episode ein junger Mann namens Eutychus (der Glücklich) während der Predigt des Paulus in Trias einschlief und unglücklicherweise aus dem Fenster stürzte – was sofortige Wiederbelebungsversuche erforderlich machte, war es zunächst Paulus selbst der im Schlaf einen Mann aus Mazedonien vor sich sah, der ihn aufforderte „herüber“ zu kommen.
Somit ließen sich Paulus und seine Begleiter nicht länger aufhalten und suchten sich ein Schiff, um übers Mittelmeer nach Griechenland zu gelangen, wo sie mit Lydia ausgerechnet eine Kauffrau aus derjenigen Gegend vom neuen Weg überzeugen konnten, die sie gerade erst hinter sich gelassen hatten, die jedoch mittlerweile in die römisch geprägte Kolonie Philippi in Mazedonien umgesiedelt war. Womit die christliche Geschichte Europas wiederum mit einer Frau beginnt. Eine Geschichte, die sich von der Idee des „neuen Weges“ zumindest so weit entfernen konnte, dass ein „Komm herüber und hilf uns“ auch heute wieder aktuell wäre. Denn die Botschaft des Neuen Weges des nicht zuletzt im letzten Abendmahl vorgestellten Jesus Christus, dem auch ein Franz von Assisi und ein Martin Luther so unterschiedliche Lebenswenden verdanken, dieser Weg erlaubt eine Orientierung an einer Meisterschaft des Lebens und des Lebendigen, die sich der Vielfalt und der Eigendynamik dieser Vielfalt nicht verwehrt, sondern in einer Lebensgestaltung nach dem Willen und aus der Perspektive Gottes ihre Kraft und ihre Wirklichkeit gewinnt.
Darin aber geht es um eine Gerechtigkeit, die Grenzen überschreitet, die den und die andere im Blick hat und nicht auf den eigenen Vorteil fixiert ist, wie es gerade der so genannte Christushymnus im Brief des Paulus an die Philipper besingt. Es muss sich niemand zum Herrn aufschwingen, auf diesem neunen Weg, weil dieser Posten schon besetzt ist – und zwar von dem, der sich rückhaltlos und die Hände der Menschen gegeben hat und der darin gewaltsam umgekommen ist. Den hat Gott zur Orientierung gesetzt, der ist es, dem die Ehre gegeben werden muss, ihm soll man sich beugen – und nicht den selbsternannten Herrn und Meister der Welt oder Europas – indem wir uns an seinen Maßstäben eines gelingenden Lebens orientieren.
Daher müssen unsere Unterschiede keine entscheidenden Unterschiede mehr machen, befreit leben können wir auch so, in Freiheit und Verantwortung, die es nur zusammen gibt, die nur zusammen wirklich werden können. Der Independence Day Europas und aller Menschen hat etwas mit dem Vertrauen in die Treue Gottes zu tun, einer im Geist Gottes wirksamen Hoffnung und einer Liebe, die sich nicht selbst abfeiern muss.
Das ist nun kein Kommentar zu den konkreten Folgen des BREXIT, wohl aber zu den zugrunde liegenden Nationalismen und neofaschistischen Bestrebungen auf der einen und den Sorgen und Ängsten einer Wohlstandsgesellschaft auf der anderen Seite. Komm herüber und hilf uns?
Heute werden die Grenzen dicht gemacht gegenüber einer syrisch-libanesischen Europa oder einem kleinasiatischen Juden mit der Botschaft eines neuen Weges. Wir wollen unser eigenes Europa meistern – schon wieder. Und ein Russland, und ein Amerika, und ein China, und ein islamisches Kalifat, und… .
Auf der anderen Seite sind wir schon da, mitten drin im „Deutschland einig Vaterland“, dessen Beschwörung beim fall der Mauer heute einen anderen Klang bekommen hat – dem wir im Gottesdienst Rowan Atkinsons deutschsprachige Version der Europa Hymne, der „Hymne des neuen Europa“, entgegen gestellt haben: eine Freude, schöner Götterfunken. Ist das Thema im Philipperbrief, die Freude – den wir ja gerade in unserer Bib-Lounge unter die Lupe nehmen.
Wir sind also schon dabei, beim Herüber-Kommen“ in unsere Nachbarschaft und wir sind auch schon da, mittendrin in Dortmund-Eving, wir Leute des Neuen Weges. Das sieht man zum Beispiel an der Haltestelle, jeden Montag, 18 Uhr, wo wir zusammenkommen und nicht ausbrechen, aufstehen und aufeinander zugehen um gemeinsamen neue Wege zu gehen und zu zeigen.