Der 8. Mai 1945 – Tag der Befreiung, Tag der Niederlage, Tag der Kapitulation:
Es scheint fast so, als sei dieser Tag für die einen das Eine und für die anderen das Andere oder wenigstens etwas anderes. Tatsächlich kann dieser Tag selbst mit diesen drei Begriffen nicht erfasst werden und jedenfalls nicht nur auf die Unterzeichnung von Urkunden und die Inszenierung großer Gesten beschränkt werden. Die Niederlage des längst schon Darniederliegenden ist ja eine notwendige Folge der lange vorher erfolgten Niederlegung von Menschenrechten, Menschlichkeit, Würde, Respekt und Anstand. Die Kapitulation beendete das Kapitel nicht nur einer nationalsozialistischen Geiselnahme Europas und ihrer Verbrechen sondern ebenso der zugrunde liegenden Macht- und Geltungsbesoffenheit einer verfehlten nationalen und persönlichen Identitätsbestimmung. Diese Kapitulation konnte daher nur bedingungslos sein. Zumal die Herrschaft des Unrechts unbedingt enden musste.
Da aus Leid Leid, aus Hass Hass, aus Unrecht Unrecht und aus Gewalt Gewalt entstand und entsteht, ging und geht es zugleich um eine Befreiung. Doch die Freiheit unseres Landes wurde nicht selbst erkämpft, trotz aller Opfer. Denn dieser Kampf hätte gegen die Nazi-Clique ebenso geführt werden müssen wie gegen die eigenen Verstrickungen in Ideologien, Traditionen, Antisemitismus, Bequemlichkeit und Opportunismus.
Wenn heute Verächter der Demokratie in ihrem Profilierungsnotstand zum Widerstand gegen Bestimmungen zum Schutz von Menschenleben wegen Covid aufrufen und andere alles hinnehmen, was verordnet wird, dann weil die einen wie die anderen die feine Linie nicht begriffen haben, dass Freiheit eine Aufgabe ist. Eine Aufgabe, Macht und Selbstermächtigung in die Schranken zu weisen, aber ebenso eine Aufgabe, Menschen in ihrer Verletzlichkeit zu schützen. Freiheit ist keine Totalität sondern Verantwortung, wie wir aus dem Dreiklang des 8. Mai 1945 gelernt haben sollten.
Darum komme ich noch einmal auf das zurück, was hier schon zur Befreiung von Auschwitz gesagt wurde: Befreiung und Freiheit sind nicht dasselbe.
Befreiung ist ein Ereignis, vielleicht ein Kampf, vielleicht eine Qual, vielleicht Erleichterung,
aber Freiheit ist eine Aufgabe.
Freiheit ist gleich in doppelter Hinsicht eine Aufgabe:
Das Alte achtsam zurückzulassen und dabei Verantwortung zu übernehmen.
Das Neue achtsam zu gestalten und dafür Verantwortung zu übernehmen.
Wir sind nur Teil der Geschichte, aber wir sind es auf nachhaltige Weise.
Darum müssen wir uns je und je den Widersprüchen unserer Existenz stellen,
die mit uns Geschichte geworden sind und aus denen Geschichte wird.
Denn Geschichte, das sind nicht Worte und Bilder in Erzählungen, Büchern, Bildern oder Filmen, als ginge es darum, dass Ereignisse, Entscheidungen und menschliches Handeln in irgendeiner Weise „verzeichnet“ sind. Als gälte es nur, Bilanz zu ziehen und ein paar Zahlen und Fakten zu nennen oder im Geschichtsbuch eine Seite weiter zu blättern.
Geschichte ist erlebtes und geprägtes Leben.
Eben darum darf die gefährdete Lebendigkeit dieses Lebens nicht vergessen sein
– und schon gar nicht verdrängt werden. Wir sind zur Freiheit befreit,
doch diese Freiheit muss auch gelebt werden.
Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg – wie wir sehen, reichen die Parolen und reicht dieses Versprechen in der gegenwärtigen Zeit der multiplen Wahrheiten, der Kriege um Deutungshoheiten und Machttricksereien nicht mehr. Demokratie organisiert Zustimmung, nicht Wahrheit – wie Thies Gundlach gesagt hat. Demokratie verhandelt, um handeln zu können. Freiheit bleibt eine Aufgabe, die aus Befreiung, Niederlage und Kapitulation Verantwortung macht.