Auschwitz

Seit 10 Jahren gilt der 27. Januar  als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (Beschluss der Generalversammlung der UN vom 1.11.2015). Seit 1996 in Deutschland als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, ist dies der Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit worden ist. Bei aller Gefahr einer Formalisierung des Gedächtnisses und der Erinnerung wird auf diese Weise Jahr für Jahr ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt. Ein Vergessen, dass auch aktuellen rechten Ideologen in die Hände spielen würde. Denn die Leiden der Opfer nationalsozialistischer Gewalt sind nicht gegenüber einer Zukunft für Deutschland (oder andere Nationalstaaten der Weltgemeinschaft) zu relativieren. Die immer wieder geäußerte Forderung, man möge doch endlich einen Schlussstrich ziehen und sich als Volk nicht von einem Schuldkomplex her definieren, ist nichts anderes als ein rhetorisches Kalkül.

Mir wäre nicht bewusst, dass die Forderung, einen Schlussstrich zu ziehen in gleicher Weise auch gegenüber anderen Ereignissen der Geschichte erhoben wird, im Gegenteil: Gründungsmythen und Herkunftsgenealogien werden je neu aus der Versenkung geholt, um das Volk als Volk zu begründen und zu bezeichnen. Die relativ kurze Geschichte europäischer Nationalstaaten hat diese Mythen gesucht und gepflegt – heute werden sie wieder aktuell.

Auschwitz hingegen ist mehr als ein Symbol und eben kein Mythos, sondern Teil des Lebens und Sterbens von Menschen, der Vernichtung, der Erniedrigung und des Leidens. Es ist der Tag der Befreiung, der den Wendepunkt markiert und damit die Konfrontation mit den Verbrechen ermöglicht. Erinnerungsort und Erinnerungstag sind nur Portale, sich dem Ungeheuer Auschwitz zu nähern, in dem persönliche und staatlich organisierte Gewalt als Feinde des Lebens zusammen kamen.Dieses Ungeheuer ist nicht erledigt, das Ungeheuerliche zu verdrängen oder zu verschieben oder auszuschließen ist nicht möglich. Erinnerung und Zukunft sind dafür viel zu eng miteinander verbunden.

In diesem Sinne ist die Konjunktur der Nazivergleiche ebenso ein Grund zur Sorge wie die Revitalisierung nationaler, ideologischer, sozialer und auch religiöser Menschenverachtung. Wenn sich die aktuelle polnische Regierung nicht von Deutschen über Demokratie belehren lassen will, dann wird nicht nur unterstellt, dass es diese enge Verbindung von Erinnerung und Zukunft nicht gegeben hat und Deutschland im Kern immer noch derselbe Staat sei, trotz der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge, sondern dann wird ausgerechnet das polnische Auschwitz als Instrument der eigenen Politik missbraucht. Eben darum kann, soll und muss Deutschland vor antidemokratischen Entwicklungen mahnen.

Es geht dabei nicht um eine Fixierung auf die Geschichte, wohl aber um die Aufmerksamkeit für die Schicksale von Menschen und die Mechanismen der Macht, der Sprache und der Gewalt, die über das Schicksal von Menschen entscheiden oder den Anspruch erheben, darüber entscheiden zu können. Auschwitz ist daher auch nicht die Brille, mit der aktuelle Ereignisse zu betrachten wären, ebensowenig wie es eine Marke ist, die anderen einfach so angeheftet werden kann.

Auch für Christen stellt Auschwitz eine Besonderheit dar:
als Frage nach der Wirklichkeit und der Existenz Gottes. Wie man nach Auschwitz noch von Gott reden könne, ist gefragt worden, und ebenso berechtigt, wie man nach Auschwitz noch vom Menschen reden könne. Als Christen finden wir uns in einem seltsam widersprüchlichen Verhältnis von Geschichte und Gegen-Geschichte: Kreuz und Auferstehung verweisen auf ein historisches Ereignis von Verrat, Folter und Tod und doch ist dieses Ereignis nicht nur historisch. Es markiert eine Wirklichkeit, die sich nicht auf den Tod reduzieren lässt, sondern die Leben ermöglicht. Ein Leben, in dem Schuld, Verlassenheit und Verzweiflung nicht einfach relativiert werden durch Vergebung und Vertrauen, Liebe und Hoffnung. Ein Leben, in dem sich aber beide Seiten auch nicht einfach gegenüber stehen.
Es ist vielmehr ein radikaler Ansatz, sich der Wirklichkeit dieser Welt zu stellen, ohne daran und darin verloren zu gehen. Um dann neue Wege des Lebens gehen zu können. Auschwitz ist ein Stolperstein dieses Weges, doch es gibt kein drumherum und er kann auch nicht übersprungen werden. Ohne hier zu stolpern, kann es kein Weiterkommen geben, sondern nur Rückschritte.